Wer Einsicht in Krankenakten hat, erhält einen Bericht über die medizinische Einschätzung eines Patienten, einen sog. Arztbericht von höchster pragmatischer Sachlichkeit. Dem kundigen Leser erschließt sich das Fachchinesisch, allen anderen nur schwer. Der dazugehörige Bericht des betroffenen kranken Menschen erschließt sich gut ohne dezidierte Fachkenntnis und es tut ihm unendlich gut, von seinem Widerfahrnis künden zu dürfen in dem Wissen, ein Ohr gefunden zu haben. Heilend ist – abgesehen vom immer erfolgreicheren Bemühen der Ärzte – allein schon die Qualität des Zuhörens. Heilend auch das Aussprechenkönnen, das sich-aussprechen-können des Leidenden.
Davon profitieren die Zuhörenden gleichermaßen, lässt sich doch aus dem Erzählten, der Lebensgeschichte entnehmen, wie es zur Erkrankung kommen und was zu ihrer Linderung beitragen konnte. Erzählungen von Erkrankten sind Bericht, Verkündung, Deutung, Weissagung, also: NARRATIVE.
Ähnliches finden wir auch in anderen sozialen Zusammenhängen, in der Justiz bei der Urteilsverkündung, nachdem alle anderen Narrative angehört wurden, nach absolvierten Prüfungen oder Bewährungsproben, dramatischen Ereignissen, etc.
Wir erzählen uns davon. Zum Nutzen anderer.
So ist das auch mit der Religion.
Kirchengemeinden sind in unserer deutschen Wirklichkeit die wohl einzigen Orte, an denen noch gesungen wird. (Früher sang man auch zu Hause.) Die alten Liedertexte werden im Vollzug gemeinsamen Gesanges aktualisiert und gewinnen auf wunderbare Art weissagenden Charakter.
Ich singe dir mit Herz und Mund,
Herr, meines Herzens Lust,
ich sing und mach auf Erden kund,
was mit von dir bewusst…
Du füllst des Lebens Mangel aus
mit dem, was ewig steht
und führst uns in des Himmels Haus,
wenn uns die Erd entgeht.
(Psalm 116,12)
Jesus sprach zu dem Geheilten: Geh hin in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, welch große Dinge der Herr an dir getan und wie er sich deiner erbarmt hat.
(Markus 5,19)